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Lösungsstrategien für die systemdienliche Weiterentwicklung der Stromnetzentgeltsystematik auf der Basis von Erkenntnissen aus der Modellregion Augsburg

In Deutschland zahlen Gewerbe und Industrie – wie alle Netznutzer – Netzentgelte für die Nutzung des Stromnetzes, haben aber zusätzlich die Möglichkeit zur Inanspruchnahme einer Netzentgeltreduktion der allgemeinen Netzentgelte bei einem aus Netzsicht wünschenswerten Nachfrageverhalten. Eine so-wohl dem Gewerbe als auch der Industrie zugängliche Sonderform der Netznutzung ist in §19 Abs. 2 Satz 1 der Stromnetzentgeltverordnung (Atypik) festgelegt und gewährt Letztverbrauchernmit einer atypischen Netznutzung eine Reduktion der allgemeinen Netzentgelte um bis zu 80%. Hierfürfordert die Atypik unter anderem eine erhebliche Lastreduktion in sogenannten Hochlastzeitfenstern, welche von Netzbetreiben in Abhängigkeit der Netzebene für jeweils drei Monate – die auch als Jahres-zeiten bezeichnet werden – ausgewiesen werden. Die Motivation der Atypik war und ist die Schaffungeines Flexibilitätsanreizes für eine zeitliche Verschiebung der Stromnachfrage, um Lastspitzen derNetzebenen zu glätten und somit Netzausbau und dessen Kosten zu begrenzen. Mit ihrer seit der Ein-führung im Jahr 2005 größtenteils unveränderten Gestaltung ist die Atypik allerdings ein Beispiel für an-gesichts der veränderten Stromnetzanforderungen aus der Zeit gefallene Regulatorik.
Seit ihrer Einführung haben sich insbesondere die Charakteristika der Energieerzeugung grundlegend gewandelt. Durch den zunehmenden Ausbau Erneuerbarer Erzeugungskapazitäten hat die Stromerzeu-gung stark an Volatilität zugenommen und gleichzeitig dezentralisiert. Letzteres hat dazu geführt, dass der Stromfluss nicht mehr nur von höheren zu niederen Spannungsebenen stattfindet, sondern inzwi-schen einen bidirektionalen Charakter aufweist. Auch dadurch sind die Anforderungen an das Stromsystem in den vergangenen Jahren stark gestiegen, nicht zuletzt verdeutlicht durch die deutliche Zunahme des Netzengpassmanagements. Um unter diesen Herausforderungen eine bezahlbare Ener-giewende zu gewährleisten und die Wettbewerbsfähigkeit des Wirtschaftsstandorts Deutschland lang-fristig zu sichern, ist eine effektive Integration der Erneuerbaren Energien von entscheidender Bedeu-tung. Um die volatile dezentrale Stromeinspeisung auszugleichen und den im Zuge der Energiewende notwendigen Netzausbaubedarf zu begrenzen, gewinnen gewerbliche und industrielle Energieflexibili-täten zunehmend an Bedeutung. Gleichzeitig führt die gegenwärtige Ausgestaltung der Atypik immer häufiger dazu, dass der Einsatz gewerblicher und industrieller Flexibilitäten verhindert wird, obwohl eine Nutzung auf Basis marktlicher Anreizmechanismen und hoher Einspeisemengen Erneuerbarer Energieanlagen möglich und systemdienlich wäre.
Die vorliegende Studie hat daher zum Ziel, drei Weiterentwicklungsoptionen für die Atypik hinsichtlich einer Förderung der Systemdienlichkeit aufzuzeigen. Eine Umsetzung der Vorschläge sollte – wenn auch theoretisch getrennt voneinander möglich – konsekutiv erfolgen, um rasch beginnen und die Sy-nergien zwischen den einzelnen Schritten nutzen zu können.
Eine für die kurzfristige Umsetzung vorgeschlagene erste Weiterentwicklungsoption betrifft die Ausweisung der Hochlastzeitfenster auf Monats- statt Dreimonats-Basis, um den Einfluss einzelner Tage auf die Ausweisung zu reduzieren. In der jahreszeitlichen Hochlastzeitfenster-Ausweisung werden insbesondere im Frühling und Herbst Monate mit grundsätzlich divergierenden Erneuerbaren Erzeu-gungsprofilen zusammengefasst. Gleichzeitig sind innerhalb des Frühlings und des Herbsts oftmals winternahe Monate wie März und November für die Ausweisung von Hochlastzeitfenstern verantwort-lich, wodurch in sommernahen Monaten wie Mai und September die effektive Integration erneuerbarer Erzeugungskapazitäten verhindert wird und diese mit hohen Kosten abgeregelt werden müssen. Eine Verkürzung der Ausweisung auf Monatsbasis könnte so einen ersten wichtigen Beitrag zur effekti-ven Integration Erneuerbarer Energiemengen leisten.
Die zweite kurz- bis mittelfristig umsetzbare Weiterentwicklungsoption stellt zur Förderung der In-tegration Erneuerbarer Erzeugung auf eine reine Residuallastbetrachtung im Sinne der „Restlast“ nach Abzug aller erneuerbar erzeugten Strommengen ab. Um der zunehmenden Bidirektionalität des Strom-flusses über die Spannungsebenen des Netzes hinweg gerecht zu werden, kann die Residuallast zudem nicht mehr nur isoliert pro Spannungsebene, sondern in einer integrativen Berechnung über alle Span-nungsebenen erfasst werden. Auf diese Weise werden Erneuerbare Energien nicht nur explizit berück-sichtigt, sondern es wird vor allem auch der zunehmenden Vernetzung der Spannungsebenen-übergrei-fenden Integration Erneuerbarer Energien Rechnung getragen.
Mittels der langfristigen Umsetzung einer dritten Option – der Ergänzung der Hochlastzeitfenster-Ausweisung um eine prospektive Bestätigungskomponente – könnte die Systemdienlichkeit der Hoch-lastzeitfenster unter Beachtung von einerseits Planbarkeit und andererseits Aktualität noch besser ge-währleistet werden. Im Detail würde das bedeuten, dass Hochlastzeitfenster weiterhin ein Jahr im Vo-raus ausgewiesen werden, die Hochlastzeitfenster aber in einer täglichen Vorausschau auf Basis aktu-eller und lokaler Bedarfs- und Erzeugungsprognosen erneuerbarer Energieanlagen bestätigt oder auf-gehoben werden. In der Folge wird die Zugänglichkeit für gewerbliche und industrielle Flexibilisierungs-maßnahmen mit längerer Aktivierungszeit aufrechterhalten. Gleichzeitig werden kurzfristig zugängliche Flexibilitäten zur Gewährleistung der Atypik-Systemdienlichkeit angereizt, indem – bei einer Aufhebung der Hochlastzeitfenster – ein auf marktlichen Anreizmechanismen basierendes Nachfrageverhalten künftig nicht mehr wie heute unterbunden wird. Auf diese Weise würde sich eine so weiterentwickelte Atypik sinnig in eine Gesamtregulatorik der Industrienetzentgelte im Elektrizitätsbereich einfügen, wie dies die Bundesnetzagentur in Ihrem Eckpunktepapier vom 24.7.2024 mit einer Stärkung des Marktsignals plant.

Zusammengefasst bedarf die Ausweisung von Hochlastzeitfenstern für atypisches Netznutzungs-verhalten nach § 19 Abs. 2 Satz 1 der Stromnetzentgeltverordnung dringend einer Weiterentwicklung, um den geänderten Anforderungen eines modernen Stromsystems gerecht werden zu können und die Wirtschaftlichkeit des Industriestandorts Deutschland langfristig zu sichern.
Mit der Ausweisung von Hochlastzeitfenstern auf monatlicher Basis schlägt diese Studie eine erste, kurzfristig umsetzbare Weiterentwicklungsoption vor, welche gegenüber dem Status quo bereits er-hebliche Vorteile aufweist, ohne die Allgemeinheit zu belasten und das Netz übermäßig zu fordern.
Über eine Erweiterung um eine Spannungsebenen-übergreifende Residuallastbetrachtung sowie die Ergänzung einer tagesaktuellen Bestätigung bzw. Aufhebung eines Hochlastzeitfensters kann die Sys-temdienlichkeit unter den sich im Zuge des Ausbaus Erneuerbarer Erzeugungskapazitäten weiterhin stark ändernden Stromnetzanforderungen sukzessive noch weiter verbessert werden.

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